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40 – 12 – 10·11 (Carriere · Liebig)

Ω

Büste

M. Wagmüller. München 1873.

JUSTUS v. LIEBIG.
8. MAI 1803 † 18. APRIL 1873.

FAMILIENGRAB
CARRIERE v. LIEBIG

Medallion

AGNES CARRIERE GEBORNE LIEBIG

Linke Tafel

Justus von Liebig 1803 – 1873
Henriette von Liebig
geb. Moldenhauer 1807 – 1881
Georg von Liebig 1827 – 1903
Lina von Liebig
geb. Maret 1834 – 1896
Daniel von Liebig 1865 – 1874
Agnes von Liebig 1869 – 1874
Hermann von Liebig 1831 – 1894
Auguste von Liebig
geb. Linder 1853 – 1935
Nessie von Liebig 1880 – 1887

Rechte Tafel

Moriz Carriere 1817 – 1895
Agnes Carriere
geb. von Liebig 1829 – 1862
Elisabeth Carriere 1857 – 1864
Barbara von Liebig
geb. Vaeth 1873 – 1938

Linke Seite

Restauriert mit Mitteln
der Thiemig-Stiftung

Ω

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Dr. phil. Moriz Carriere

* 5.3.1817 (Griedel/Hessen)
† 19.1.1895 (München)
Philosoph und Schriftsteller

Biographische Blätter (1895)

Moritz Carriere.

Von
Franz Muncker.

Am 18. Januar 1895 starb zu München in hohem Alter der Ästhetiker Moritz Carriere. Über ein halbes Jahrhundert lang hatte er ein ebenso mannigfaltiges wie segensreiches Wirken als Lehrer und als Schriftsteller entfaltet, bis zu seinen letzten Stunden unermüdlich im Dienste der Wissenschaft, ein nie entmuthigter Streiter für Geistesfreiheit, für das, was er als wahr, gut und schön erkannte, ein Denker und Forscher, der den Blick stets nur auf die edelsten Ziele gerichtet hielt, zugleich aber ein wahrhaft vornehmer, liebenswürdiger Charakter, der im milden, hilfreichen Handeln für diejenigen, an deren Tüchtigkeit er glaubte, aufopferungsvoll sich nicht genug thun konnte. So folgt ihm denn auch die verdiente Verehrung, noch mehr aber die dankbare Liebe aller, die ihn nicht bloss oberflächlich kennen lernten, über das Grab hinaus.

Carriere wurde am 5. März 1817 in dem oberhessischen Dorfe Griedel bei Butzbach geboren. Sein Vater war Rentamtmann daselbst. Seine erste Vorbildung erhielt der Knabe durch Privatunterricht bei dem später durch politische Verfolgung in den Tod getriebenen Dr. Frd. Ludw. Weidig, der damals Konrektor in dem nahen Butzbach war. Im Herbst 1832 wurde er in die Sekunda des Gymnasiums zu Wetzlar aufgenommen. Unter seinen Mitschülern that er sich rasch hervor. Schon im September 1833 hielt der inzwischen zum Primaner Beförderte bei der Schlussfeier des Schuljahres eine deutsche Rede über das Thema: Warum und inwiefern ist das jugendliche Alter das glücklichste zu nennen? In denselben Tagen durfte er auch im Namen seiner Mitschüler beim Abschiede des nach Ilfeld berufenen Professors E. W. Wiedasch dem verdienstvollen und geliebten Lehrer ein eigenes deutsches Gedicht in brav gereimten Stanzen überreichen, wohl die erste seiner litterarischen Arbeiten, die zum Druck gelangte (im Wetzlarer Gymnnsialprogramm 1833). Die glatt fliessenden Verse mit ihrer sauberen, schwungvollen Sprache enthalten zwar noch keine besonders eigenartigen oder bedeutsamen Gedanken; immerhin aber muthet es uns wie eine Vorahnung der Ziele an, die Carriere später unablässig verfolgte, wenn schon der Sechzehnjährige dem scheidenden Lehrer begeistert dankte, dass er ihm »das tiefversteckte Fliessen des Wahrheitsborns« gezeigt, ihn zum »Heiligthum des Schönen« geführt, sein Auge an das Ideale gewöhnt habe.

Seit 1835 studirte Carriere in Giessen und Göttingen, vom Herbst 1837 an in Berlin, bis er im Juli 1838 zum Doktor der Philosophie promovirte. Schon vor diesem äusseren Abschlusse seiner Studien aber war er als Schriftsteller öffentlich hervorgetreten, 1837 zu Güttingen mit einer umfangreichen lateinischen Abhandlung »De Aristotele Platonis amico ejusque doctrinae justo censore«. Die Schrift, einem Wetzlarer Lehrer Moritz Axt gewidmet, bekundet vor allein eine aussergewöhnliclie Belesenheit nicht nur in der einschlägigen philologischen und philosophischen Speziallitteratur, sondern auch in den philosophischen, historischen und poetischen Werken der neueren Zeit. Schon hier beruft sich Carriere auf verschiedene Geisteshelden des deutschen Volkes und des Auslandes, die ihm zum Theil sein Leben lang als Führer und Vorkämpfer gegolten haben, auf Dante, Bacon, Spinoza, Luther, Lessing, Schiller, Friedrich Schlegel, Schelling, Gervinus, Dahlmann, Rosenkranz, D. F. Strauss und andere Geschichtschreiber und Denker der Gegenwart, namentlich aber auf Goethe, Wilhelm v. Humboldt und Hegel, die er als »summi nostrae culturae duces et auctores« begeistert preist. Während damals noch die grosse Menge der jüngeren deutschen Schriftsteller mit Börne und Menzel sich schroff ablehnend gegen unsern grössten Dichter verhielt, zeigte Carriere bereits in dieser Erstlingsschrift überall die höchste Verehrung für Goethe, für den ihm auch der bewundernde Beiname »…« nicht zu überschwänglich erschien. Im gleichen Jahre 1837 widmete er zusammen mit seinem Freunde Theodor Creizenach der Universität Göttingen als poetische Festgabe zu ihrer Säkularfeier einen Kranz von Sonetten auf die grossen Männer der Dichtkunst und der Wissenschaft, die in Göttingen studirten oder als Lehrer wirkten, von Haller an bis auf die Brüder Grimm und andere Dozenten, die er selbst gehört und persönlich kennen gelernt hatte, und bis auf Heinrich Heine, den er bei voller Anerkennung seiner früheren Leistungen zürnend mahnte, aus dem jetzigen Schlummer sich aufzuraffen und mit Ernst dem Höchsten nachzustreben. Ein kühner, kampfesfreudiger Ton klingt überhaupt durch diese Sonette; Untergang wird allen noch bestehenden Götzenbildern gepredigt, Freiheit, Recht und Wahrheit als einziger Pol der Jugend im edlen Streite um die heiligsten Ideale gezeigt.

Nach seiner Promotion verweilte Carriere noch ein halbes Jahr in Berlin. Jetzt gelangte er auch in persönlichen Verkehr mit Bettina v. Arnim, und bald verband ihn die innigste Geistesharmonie mit der eigenartigen Frau, die mehr als einmal das rechte Wort fand für das Gähren und Ringen im Wesen des jüngeren Freundes, bald anregend und zündend, bald klärend und beglückend auf sein philosophisches Denken und menschlich-künstlerisches Empfinden einwirkte. Im Frühling 1839 wandte sich Carriere über München, wo er Bettinas Bruder, Clemens Brentano, aufsuchte, nach der Schweiz, dann nach Italien, das er bis nach Neapel und Sizilien durchstreifte; den Winter verlebte er in Rom, dem hauptsächlichen Ziele seiner Reise. Im Spätherbst 1840 erst kehrte er aus dem Süden nach Berlin zurück. Er versuchte nun hier und darnach in Heidelberg sich als Privatdozent für Philosophie an der Universität niederzulassen. Sowohl das badische Ministerium wie die philosophische Fakultät in Heidelberg kamen 1841 seinem Wunsche wohlwollend entgegen; dennoch nahm er schliesslich die Lehrthätigkeit an der altberühmten Hochschule nicht auf, da eben damals in öffentlichen Blättern und in den Sitzungen der zweiten badischen Kammer laute Klagen über die willkürlich verletzte und aufgehobene Lehrfreiheit der badischen Dozenten ertönten. Er beschäftigte sich noch ein Jahr lang hauptsächlich mit Kunststudien; dann habilitirte er sich 1842 in Giessen für Philosophie: im Wintersemester 1842/43 las er seine ersten Kollegien, darunter eines über Schiller als Dichter und Denker, das er noch fünfzig Jahre darnach in seinem hundertsten Dozentensemester in München unter dem begeisterten Beifalle einer nach mehreren Hunderten zählenden Zuhörerschaft, wiederholte. 1849 wurde der beliebte, litterarisch sehr thätige Dozent, zu dessen ersten Hörern Männer wie Ludwig Bamberger, Wilhelm Heinrich v. Riehl, Max Klinger, Karl v. Hofmann, Wilhelm Baur zählten, zum ausserordentlichen Professor in Giessen befördert. Der glänzendste Stern der Giessener Hochschule war damals Justus v. Liebig. Ihm trat Carriere bald in verehrungsvoller Freundschaft nahe; in seinem Hause fand er die spätere, über alles geliebte Lebensgefährtin. Eben als Liebig einem Rufe an die Münchener Universität folgte, wurde seine Tochter Agnes (geboren am 6. Juni 1829 zu Giessen) Carrieres Braut: am 26. September 1852 feierten die Glücklichen zu Soden im Taunus ihre Verlobung. Im Winter darauf sahen sie sich bei einem Besuche des Bräutigams in München wieder. Schon damals wurde Carriere in den Kreis von Künstlern, Dichtern und Gelehrten eingeführt, die König Maximilian II. an seine Residenz zu fesseln vor kurzem begonnen hatte. 1853 gesellte er sich selbst zu dieser Schaar, als er einem Rufe an die Münchener Universität als ordentlicher Professor der Ästhetik folgte.

Das glücklichste Jahrzehnt seines Lebens begann, eingeleitet durch seine Vermählung mit Agnes (am 28. Mai 1853 zu München). Was er Jahre lang ersehnt und gehofft hatte, bot ihm nun die Gegenwart in reicher Fülle. Der seligen Lust reinster Liebe, die er auf einer italienischen Reise mit seiner jungen Gattin genoss und in begeisterten Gedichten aussprach, folgte noch innigeres Entzücken, als ihm im März 1854 ein Sohn, Justus, im August 1857 auch eine Tochter, Elisabeth, geboren wurde. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in München gestalteten sich für den Neuzugewanderten ebenfalls behaglich, obgleich ihn die ultramontane Partei zuerst mit einer Fluth von Schmähungen empfing und als Demagogen und Atheisten brandmarkte. Besonders war Carriere bald ein geschätztes, regsames Mitglied des künstlerisch-litterarischen Kreises, der zum grösseren Theil ja aus Nichtbayern bestand; an der Dichtergesellschaft der »Krokodile« nahm er eifrigen Antheil, mit Geibel, Lingg, Heyse, Hertz, Melchior Meyr und den übrigen älteren und jüngeren Poeten des damaligen München ebenso befreundet wie mit Kaulbach, Schwind, Philipp Foltz, Piloty und anderen Malern jener Epoche oder mit vielen seiner Kollegen von der Universität. Zu den Vorlesungen an der Hochschule übernahm er im Januar 1856 auch Vorträge über Kunstgeschichte an der Akademie der Künste sowie das Sekretariat derselben Anstalt; über dreissig Jahre lang gewann er als Dozent, als Schriftführer und meistens auch Referent in den akademischen Sitzungen, überhaupt als maassgebender Beirath des Direktors bedeutenden Einfluss auf die Akademie, die gerade in dieser Zeit einen mächtigen Aufschwung nahm. Aber auch die Veranstaltung der historischen deutschen Kunstausstellung von 1858 wie später die Errichtung des neuen Akademiegebäudes in den siebziger Jahren war seinem eifrigen, durchaus initiativen Vorgehen im hohen Grade mit zu verdanken.

In dieser ausgebreiteten Amtstätigkeit und im ununterbrochenen litterarischen Wirken suchte und fand Carriere Trost, als sein häusliches Glück jäh zertrümmert wurde. Am 29. Dezember 1862 raffte ein früher Tod Agnes weg; anderthalb Jahre darnach, im Mai 1864, folgte der Mutter auch das Töchterchen ins Grab. Dem Vereinsamten führte seine Schwester Bertha das Haus; mit Ernst und Liebe half sie ihm den Sohn erziehen, als treue, sorgsame Pflegerin stand sie ihm selbst bis an seine letzten Tage zur Seite. Heilig hütete sie mit ihm die Erinnerung an sein einstiges Familienglück, die ihm nicht nur für die ersten Zeiten der Trauer, sondern für den ganzen, grossen Rest seines Lebens eine unerschöpfliche Quelle wehmüthiger Freude war. Zur vollen frohen Begeisterung seiner früheren Jahre schwang er sich erst wieder auf, als 1870 das deutsche Volk im Süden und Norden wieder geeinigt dastand, bereit, seine alte Kraft aufs Neue zu bewähren. Mit hellem Jubel verfolgte er die Siege Deutschlands, Schlacht für Schlacht, bis zur Gründung des neuen Reiches und zum Friedensfeste 1871, in München einer der rührigsten und edelsten Vorkämpfer deutscher Einheit und Grösse, gegen die sich gerade hier zuerst noch gar manche Anhänger einer einseitig katholisch-bayerischen Partei heftig sträubten. Auch in die Gedichte, mit denen er sich im August 1872 an der Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Münchener Universität betheiligte, klang der patriotische Mahnruf mächtig herein. Ebenso blieb Carriere später, als die erste vaterländische Begeisterung des geeinigten deutschen Volkes verrauscht war, stets mit vollem Eifer der nationalen Sache zugethan, immer liberal gesinnt in des Wortes edelster Bedeutung, ein muthiger, aber vor allen extremen Bestrebungen sich sicher bewahrender Vertheidiger wahrhafter Geistesfreiheit. Äusserlich wurde sein Leben immer ruhiger; auch die Reisen, die er während der Ferien noch mehrfach unternahm, hielten sich allmählich in engeren Grenzen.

Im Anfang der achtziger Jahre kamen wieder trübe Zeiten: auf beiden Augen Carrieres bildete sich der graue Staar aus, und zu wiederholten Malen wurde eine Operation nöthig, bevor der Alternde, dessen Körper und Geist sonst freilich noch ganz die ehemalige Frische und Beweglichkeit besass, die Sehkraft wieder erlangte; eine gewisse Schonung der Augen musste er sich aber überhaupt von nun an zum Gesetze machen. Zu Ende des Winters 1881 feierten die Professoren und Schüler der Kunstakademie sein füufundzwanzigjähriges Wirken an dieser Anstalt durch eine Deputation, einen Fackelzug und ein in gehobener Stimmung fröhlich verlaufendes Kellerfest. Im Herbst 1887 gab der Siebzigjährige seine Thätigkeit an der Kunstakademie überhaupt auf; doch verblieb er noch als Ehrenmitglied in der Körperschaft, deren Schriftführer er über drei Jahrzehnte gewesen war. Im Juli 1888 beging er sein Doktorjubiläum. Ein Jahr später wählte ihn die philosophisch-philologische Klasse der bayerischen Akademie der Wissenschaften zum ordentlichen Mitgliede. Das Sommereemester 1892, sein hundertstes Dozentensemester, brachte ihm mehrfache herzliche Huldigungen der Münchener Dozenten und Studenten. Auch noch ein tiefer Schmerz suchte ihn heim: im Juli 1893 starb plötzlich nach ganz kurzer Krankheit sein Sohn Justus, der sich als Professor an der Universität Strassburg eine ehrenvolle Stellung in der gelehrten Welt erworben hatte, der Stolz und die Hoffnung des greisen Vaters. Dieser nahm jetzt die Wittwe und die Kinder des Todten zu sich nach München, seine letzte Liebe und zärtliche Sorgfalt widmete er ihnen. Munter und pflichteifrig wirkte Carrlere in ihrer Mitte noch anderthalb Jahre, an der Universität ohne Unterbrechung in der alten Weise thätig. Noch am 17. Januar 1895 hielt er in ungeschwächter Gesundheit seine Nachmittagsvorlesung und verbrachte den Abend nach seiner Gewohnheit mit Freunden in der Museumsgesellschaft. In der Nacht darauf erlag er einem Schlaganfalle, der ihn schmerzlos im Schlafe traf. Am 20. Januar geleiteten ihn seine Freunde, Kollegen, Schüler und Verehrer zur Ruhe. Dichtgedrängte Schaaren aus den verschiedensten Kreisen der Münchener Künstler-, Gelehrten- und Beamtenwelt, Dozenten und Studenten aller Fakultäten umstanden das offene Grab, alle einmüthig in dem Gefühle verehrungsvoller, aufrichtiger Liebe zu dem Verewigten.

In seinen grösseren Universitätsvorlesungen behandelte Carriere bald die gesammte Ästhetik, bald das besondere Kapitel derselben über Wesen und Formen der Poesie. In das eine, umfassendere Kolleg flocht er Charakteristiken der epochemachenden Werke aus den verschiedenen Künsten und ihrer Meister ein; in dem anderen bemühte er sich zugleich die Grundzüge der vergleichenden Literaturgeschichte zu entwerfen. Gelegentlich las er auch einmal ganz speziell über die ästhetische Theorie und vergleichende Literaturgeschichte des Dramas. Ungleich besuchter als diese ausführlicheren, vier- oder gar fünfstündigen Kollegien waren seine einstündigen Publika über menschliche Freiheit und sittliche Weltordnung, über Goethes »Faust«, Schiller als Dichter und Denker, Shakespeare im Lichte der vergleichenden Literaturgeschichte. Zu ihnen strömten, besonders in den letzten Jahrzehnten, die Zuhörer in Schaaren herbei, und Tausende erquickten sich hier im Laufe der Jahre an der persönlichen Innigkeit und frohen Begeisterung, mit der der Vortragende, frei von aller äusserlichen Rhetorik, nicht einmal von einer kraftvoll durchdringenden Stimme unterstützt, aber selbst gehoben durch die Gewissheit seiner innereren Überzeugung, für den Sieg des Wahren, Guten, Schönen im Leben und in der Kunst und Wissenschaft einstand. In diesen Vorlesungen verdiente sich Carriere vor allem den Ehrennamen eines Bannerträgers des Idealismus, mit dem ihn, ein befreundeter Amtsgenosse in seinem Nachrufe charakteristisch schmückte.

Hand in Hand mit dieser Lehrthätigkeit ging eine überaus fruchtbare litterarische Wirksamkeit, auch sie durchaus dem Kampf für das Ideale und gegen den Materialismus in jeglicher Form gewidmet. Mehrere von Carrie bedeutendsten wissenschaftlichen Werken erwuchsen ihn unmittelbar aus seinen Vorlesungen, so das Buch über die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart (1847), die religiösen Reden und Betrachtungen für das deutsche Volk (1850), das Werk über Wesen und Formen der Poesie (1854, ganz umgearbeitet 1884), die »Aesthetik« (1859), die fünf Bände über die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung (1863–1874) und die Schrift über die sittliche Weltordnung (1877). In seinen philosophischen Anschauungen ging Carriere von Hegel aus, dessen bleibendes Verdienst in der Geschichte des menschlichen Geistes er wiederholt mit dankbaren Worten rühmte. Aber schon frühzeitig wandte er sich auch gegen Hegels Einseitigkeiten, namentlich gegen sein »Verkennen der Individualität«, gegen seine »Gewaltherrschaft der abstrakten Gedankenallgemeinheit«. Aus sittlichen Lebenserfahrungen und naturwissenschaftlichen Studien schöpfte er die Einsicht, dass die Idee oder das Allgemeine nicht das für sich Wirkliche sei, sondern des Individuellen, der Subjektivität als Trägers bedürfe. So viel Wahres ihm auch die Philosophie Spinozas zu enthalten schien, so erkannte er doch bald, »dass die Substanz als Subjekt begriffen werden müsse, dass sie nicht erst in ihren Entfaltungen zum Bewusstsein komme, sondern ewig sich selbst erfassende Intelligenz und Persönlichkeit sei«. So suchte er sich des im Pantheismus wie im Deismus liegenden echten Gehaltes zu bemächtigen, die Einseitigkeiten und Gegensätze beider Lehren aber durch eine theistische Weltanschauung zu überwinden, die er bei den deutschen Mystikern und bei Giordano Bruno schon vorbereitet fand. Mit der Unendlichkeit der Welt und der Ewigkeit der Substanz behauptete er zugleich die Einheit und Selbständigkeit der göttlichen Persönlichkeit. Auf Grund dieser Auffassung von Gott und Welt, bemühte er sich Wissen und Glauben zu versöhnen, das Evangelium mit den Natur- und Geschichtskenntnissen der Gegenwart in Einklang zu bringen. Er hielt die Freiheit des Forschens und Denkens, aber nicht minder den Glauben an die Grundlehren des Christenthums, an die Gottmenschheit und die Erlösung fest; mit Hilfe der aus der Wissenschaft gewonnenen Vorstellungen vom Wesen Gottes und des Menschen suchte er die religiösen Geheimnisse zu begreifen, den Frieden zwischen Geist und Herz zu besiegeln und so die Philosophie zur wahren, beseligenden Lebenswissenschaft zu weihen. Immer wieder bis zu seinen letzten Schriften fasste er dieses nämliche Ziel ins Auge: in der schönen Abhandlung »Jesus Christus und die Wissenschaft der Gegenwart« (1888) und noch in der akademischen Festrede »Erkennen, Erleben, Erschliessen« (1893), fand er die Lösung des Welträthsels, durch die auch die Forderungen des religiösen Gemüthes befriedigt und die Thatsachen des religiösen Lebens verständlich werden, einzig in der auf Vernunft und Erfahrung, auf Natur und Geschichte gegründeten Gottesidee des Einen und Unendlichen, wie es zugleich Naturmacht und wissender, wollender Geist ist, dem der als Naturkraft reale, sich selbst zur Geistigkeit bestimmende und in seiner Innenwelt das Reich der Freiheit und der Liebe erbauende gottinnige Mensch gegenübersteht.

Unter Carrieres wissenschaftlichen Werken nehmen seine mannigfaltigen und umfangreichen ästhetischen Schriften einen hervorragenden Platz ein. Sie sind auf derselben antimaterialistischen Grundlage wie seine gesammte Philosophie, auf der Weltanschauung des Idealrealismus aufgebaut. Das Schöne ist ihm die Harmonie von Natur und Geist, die Ineinsbildung des Realen und Idealen, die Lebensvollendung im Einklang von Sinnlichkeit und Vernunft, das volle mangellose Sein, die verwirklichte Weltharmonie in der Übereinstimmung des Innern und Äussern. Die Kunst, die das Schöne um der Schönheit willen schafft, wird so »die Krystallgestalt des Lebens«. Sie stellt im Seienden das Seinsollende dar, gestaltet das innere Leben des Geistes in den Formen der äussern Natur und erfasst die Gegenstände der sinnlichen Erscheinung, um in ihnen das ewige Wesen der Dinge zu enthüllen. In den Grundsätzen seiner Aesthetik, den wichtigsten Definitionen und Unterscheidungen konnte Carriere sich mit Recht vielfach auf Äusserungen Goethes, Schillers, Wilhelm v. Humboldts und ihrer gleichzeitigen Geistesgenossen berufen. Nicht minder aber betonte er selbst, dass er sich nicht auf den Boden einer vorgefassten Theorie stelle, sondern im Einklang mit Fechner und den Anhängern der psychologischen Richtung von unsern Empfindungen, also von Thatsachen der Erfahrung ausgehe. Vor allem jedoch verband er durchaus in seinen ästhetischen Schriften die theoretisch-philosophische Betrachtung mit der praktisch-historischen. Überall eröffnete er lehrreiche Ausblicke auf die künstlerische oder überhaupt kulturgeschichtliche Entwicklung ältester und neuer Völker, auf die sittlichen und ästhetischen Ideale, denen die Menschheit im Wechsel der Zeiten nachstrebte, auf die Meisterwerke der verschiedenen Künste in früheren oder späteren Jahrhunderten, auf die ewig gültigen Aussprüche der grössten Denker und Dichter aller Nationen. So bot er namentlich in seinem grossen Werke über die Kunst eine Art von umfassender Kulturgeschichte von den ältesten Perioden orientalischer Geistesentwicklung an bis auf die Gegenwart. Im engeren Rahmen führte er das gleiche Prinzip historischer Betrachtung in dem Buche durch, das er seiner Lieblingskunst widmete, der Poesie, die er gelentlich mit unleugbarem Rechte, wofern man seinen Ausdruck nicht missversteht, als die ihre Schwesterkünste beherrschende Kunst der Zukunft verkündigte. Indem Carriere den inneren Zusammenhang der Sagen und Mythen verschiedener Völker, die künstlerische Behandlung derselben Stoffe in alter und neuer Zeit beleuchtete und die bedeutendsten Dichterpersönlichkeiten der Weltlitteratur und ihre grössten Werke auf ihre geistige Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit prüfte, gab er zugleich schätzbare Winke und Beiträge zur vergleichenden Litteraturgeschichte, unter deren Begründern er mit in erster Reihe steht.

Aber auch speziell um die deutsche Litteraturforschung machte er sich mannigfach verdient, sowohl durch Ausgaben von Goethes »Faust« und Schillers »Tell« mit reichen Erläuterungen, wie durch mitunter vortreffliche Charakteristiken deutscher Geisteshelden, namentlich aus den beiden letzten Jahrhunderten. An der neuesten Literatur unseres Volkes etwa seit 1840 nahm er selbst unmittelbaren, thätigen Antheil, als Dichter und als Kritiker. Seine poetischen Versuche, durchweg dem Bereiche der Gedankenlyrik angehörig, zeichnen sich weniger durch kräftige Eigenart und vollkommene künstlerische Gestaltung als durch den Adel und Tiefsinn ihres Ideengehaltes aus; durchaus Produkte der Reflexion, spiegeln sie doch die geistige Persönlichkeit des für alles Grosse und Schöne in der Geschichte der Menschheit begeisterten Verfassers vortrefflich wieder. Noch emsiger aber griff Carriere durch seine zahlreichen kritischen Aufsätze, die er in allerlei Zeitschriften veröffentlichte, in den Entwicklungsgang unserer Litteratur ein. In den letzten fünfzig Jahren sind nur wenige wirklich bedeutende Schriften auf dem Gebiete der deutschen Poesie, Philosophie und Litteraturgeschichte erschienen, die er nicht in ausführlichen, sorgfältig auf das Einzelne eingehenden Rezensionen besprochen hat. Immer mild, liebevoll anerkennend, wo er echtes, edles Streben wahrnahm, nur dann schroff ablehnend, wenn er die von ihm heilig gehaltenen Ideale durch einen geistlosen Mechanismus oder durch materialistische Tendenzen bedroht sah. Ungemein schnell und leicht scheint ihm die Arbeit bei diesen Aufsätzen von der Hand gegangen zu sein; aber überhaupt alles, was er schrieb, auch seine grossen philosophischen Werke nicht ausgenommen, zeugt von seltener Flüssigkeit und Gewandtheit der stilistischen Darstellung. Durch geistige Tiefe und systematische Strenge, durch neue, wissenschaftlich bedeutsame Ergebnisse vermochte Carriere mit andern Denkern und Forschem seiner Zeit oft nicht zu wetteifern; aber, wie wenige, verstand er popular im guten Sinne zu schreiben, durch einen deutlichen, schmuckreichen, unter Umstünden auch breiten und oft etwas rhetorisch gefärbten Vortrag anregend und zündend auf die weiteren Kreise der Gebildeten zu wirken.

Höher aber als alle wissenschaftlichen Leistungen des Lehrers und Schriftstellers steht die persönliche Charaktertüchtigkeit Carrieres. Er war ein guter Mensch, treu und unermüdlich im Dienste der Pflicht, vornehm in seiner Gesinnung, rein in seinem Wollen, ehrlich in seinem Handeln, selbst liebenswürdig und mit herzlicher Liebe seinen Nebenmenschen zugethan. Er glaubte an den edlen Kern der menschlichen Natur und kam in diesem schönen Optimismus wohlwollend allen entgegen, die seine Hilfe heischten. Besonders seinen Schülern und jüngeren Kollegen war er immer nicht nur ein berathender, sondern auch ein selbstthätiger, oft aufopferungsvoller Freund. Die Ideale, die er predigte, hat er im eigenen Leben redlich zu verwirklichen getrachtet, stets und überall sich edel, hilfreich und gut erwiesen, reichlich Liebe gesät und verehrungsvolle, dankbare Liebe geerntet.

Franz Muncker: Biographische Blätter. Jahrbuch für lebensgeschichtliche Kunst und Forschung. Herausgegeben von Anton Bettelheim. Erster Band. Berlin, 1895.

Berühmte Tote im Südlichen Friedhof zu München (1983)

Carriere Moritz, Dr. phil., 1817 (Griedel/Hessen) – 1895, Philosoph, Ästhetiker und Universitätsprofessor; er studierte in Gießen, Göttingen und Berlin Philosophie, lebte dann in Italien, habilitierte sich in Gießen und wurde dort 1849 Professor der Philosophie (seit 1853 in München); Cs. Philosophie stand sehr unter dem Einfluß Weißes, Hegels und des jüngeren Fichte, er suchte später aber den Pantheismus und Deismus zu überwinden, indem er in der Anschauung eines sowohl selbstbewußten als unendlichen, in Natur und Geschichte sich offenbarenden, Gottes die Hauptaufgabe des menschlichen Geistes erblickt; seine Hauptwerke weisen ihn als einen liberalen Vertreter jenes Spätidealismus aus, der um eine Versöhnung der Metaphysik des deutschen Idealismus mit der christlichen Religion rang; Cs. Denken freilich gewährt nur einem dogmen- und kirchenfreien philosophischen Christentum Raum, dem er im Kulturkampf mit Eifer das Wort redete; seine wissenschaftlichen Leistungen liegen vielmehr auf dem Gebiet der Ästhetik.

Hauptwerke: Die sittliche Weltordnung, Jesus Christus und die Wissenschaft der Gegenwart (14 Bde.), Vom Geist-, Schwert- und Handschlag für Franz Baader, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung und die Ideale der Menschheit (5 Bde.); C. gab auch Goethes Faust und Schillers Wilhelm Tell heraus und veröffentlichte selbstverfaßte Gedichte (Agnes – Liebeslieder und Gedankendichtungen); in seinen »Lebensbilder« schilderte er ihm bekannte Denker, Dichter und Künstler; er war mit einer Tochter Liebigs verheiratet.

© Dr. phil. Max Joseph Hufnagel: Berühmte Tote im Südlichen Friedhof zu München. Zeke Verlag; 4. Auflage. Würzburg, 1983.



© Reiner Kaltenegger · Gräber des Alten Südfriedhofs München · 2007-2025


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